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Dr. Tony Riecke

Zu Beginn die Worte eines großen Jägers, Worte von Freude und harten Pflichten. „Pflichten erfüllen und dasein müssen“ war das erste und immer in Erinnerung Bleibende, das ich im Haus meines Groß­vaters lernte. Viele Jahre später habe ich erst erfahren, daß erfüllte Pflichten Freude bringen. Dieses Gefühl lernte ich kennen, als ich unter für eine Frau ungewöhnlichen Bedingungen eine große Landpraxis führte.

Vorkriegsjahre

Meinem Großvater verdanke ich zunächst, daß ich imstande war, den Anforderungen dieser Praxis gewachsen zu sein. Mehr als 50 Jahre lang war er Arzt einer großen Landpraxis und gleichzeitig noch Chirurg an einem Krankenhaus im Sauerland. In seinem Haus verbrachte ich den größten Teil meiner Kindheit. Hier lernte ich von ihm Pflichten zu erfüllen, zu jeder Zeit da zu sein und in allen Situationen — ohne Klinik im Hintergrund — eigene Entscheidungen zu treffen und selb­ständig zu handeln.

Mit den Erkenntnissen aufgrund dieser Erziehung entschloß ich mich, Medizin zu studieren, obwohl ich lange Zeit auch großes Interesse an den Naturwissenschaften hatte. Großvater war nicht der einzige ärzt­liche Vertreter unter meinen Vorfahren; es gab Bauern, geistliche Herren, Ärzte — vor allem jedoch Jäger.

Großvater sagte zu mir: „Kind, wenn du schon Medizin studieren willst, so werde Kreis- oder Augenarzt. Du siehst, was hier los ist! Als Frau wirst du die Anstrengungen einer Landpraxis nicht aushalten. Du glaubst es doch selbst nicht, daß du als Frau Geburtshilfe machen kannst“ Meine Antwort: „Wenn ich Beamter werden soll, studiere ich nicht Medizin!“

Studienjahre

Also begann ich das Medizinstudium in Bonn, vorsorglich beobachtet von Professor Sobotta, den mein Großvater gebeten hatte, ein wach­sames Auge auf mich zu werfen. Häufig erkundigte sich Großvater nach meinen Studien. Eine Frage interessierte ihn immer: „Sitzt ihr in der Anatomie auch neben Studenten?“ Durch Privatunterricht hatte ich früher eine Schulklasse übersprungen. So war ich natürlich sehr jung, so daß die Sorge des Großvaters verständlich erschien.

Nach bestandenem Physikum studierte ich in Königsberg und lernte dort die ganze Herrlichkeit der ostpreußischen Landschaft kennen und lieben. Die Universität gab sich alle Mühe, den Studenten diese Land­schaft nahe zu bringen. Mir ist eines unvergeßlich: Die Elche auf der Kurischen Nehrung — im Hintergrund der Abendhimmel!

Nachdem ich Königsberg ein Sommer- und Wintersemester lang genossen hatte, folgte ich dem Wunsch meiner Eltern, an der Medizini­schen Akademie in Düsseldorf mein Staatsexamen abzulegen. Die Akademie umfaßte damals nur klinische Semester. Die Zahl der Stu­denten überstieg nicht einmal 400. Jeder kannte jeden. Wir hörten nicht nur Vorlesungen, sondern hatten auch die Möglichkeit, an jedem Tag und in jeder freien Minute in der Klinik oder in Forschungs­labors zu arbeiten.

Bei Schlossmann, Hübschmann (eine Zeit lang war ich bei ihm Medi­zinalpraktikantin), bei Frey und Thannhauser durfte ich Vorlesungen hören. Im Kreislauflabor von Thannhauser begann ich meine Doktorarbeit über das Thema „ Minutenvolumen beim Herzblock“. Als Nach­folger von Professor Thannhauser übernahm Professor Edensfreund­licherweise meine Arbeit. Mit einer etwas rauhen, „herzhaften“ Methode stellte ich in diesem Labor die absolute arteriovenöse Diffe­renz fest: Ich punktierte den rechten Vorhof! Gottlob, es passierte nichts!

Assistentenzeit

Meine weitere medizinische Ausbildung setzte ich zunächst an der Charite in Berlin fort, danach in einem kleinen Kreiskrankenhaus in der Umgebung der Stadt. Hier mußte ich als Volontärin eine chirur­gisch-gynäkologische Abteilung mit 100 Patienten betreuen. Ver­gütung für diese Tätigkeit: DM 25.— monatlich und ein schlechtes Mittagessen (3. Klasse) täglich. Sämtliche Schreibarbeiten, Arztberichte und Krankenblätter mußte ich mit der Hand schreiben, da es im ganzen Haus nur eine Schreibmaschine gab.

Zur Ausbildung war uns jungen Assistenten jede Stelle recht, wenn wir nur arbeiten und lernen konnten. Daher fragten wir auch nicht danach, ob die Stelle, die man uns bot, angenehm oder besonders vorteilhaft war. Wir standen derselben Situation gegenüber wie die heutigen Studenten: Es bestand ein absoluter Mangel an Assistenten­stellen.

Besondere Beziehungen und Empfehlungen hatten wir nicht. Niemand interessierte sich für uns. Wir mußten nur „immer dasein“, ohne nach der Zeit zu fragen. So hatte es mich schon Großvater gelehrt. Diese Erfahrung bestimmte später mein Leben als Landärztin! Wenn ich das nochmals betone, dann nicht deshalb, um mich als stille Dulderin oder Märtyrerin hinzustellen, sondern nur um darauf hinzuweisen, was ich einleitend unter der „Freude bei erfüllten Pflichten“ verstanden wissen möchte. In meiner Familie war Pflichterfüllung selbstverständ­lich : Das war Tradition!

Landpraktikum

Nach meiner Assistentenzeit habe ich geheiratet. Doch ich hatte er­fahren, daß es wichtig war, auf sich selbst gestellt zu bleiben. Des­halb bemühte ich mich in Berlin um eine Kassenpraxis. Nachdem ich Wohnung und Praxis eingerichtet hatte, erhielt ich überraschend die Nachricht, daß ich zunächst noch ein halbes Jahr lang einem Landarzt assistieren müßte. Ich war wütend, doch dann suchte ich in der Um­gebung von Berlin einen Landarzt, der mich als Assistentin nehmen würde. Der Erfolg: Überall wurde meine Bewerbung abgelehnt. So mußte ich meine landärztliche Verwandtschaft bemühen. Ich erhielt eine Stelle und sammelte nun Erfahrungen in Chirurgie, Geburtshilfe, im Röntgen und in anderen Fächern. Dabei durfte ich auch Praxis­vertretungen im oberen Sauerland übernehmen.

Die Erfahrungen dieser Zeit beeinflußten meine Zukunft. Im Klinik-und Großstadtleben war manches verschüttet worden. Durch mein „Dasein“ in diesen Landpraxen wurde es wieder lebendig: die Liebe zur Natur, zur Jagd und zum ländlichen Menschen.

Landpraxis

Eines Tages erhielt ich die Erlaubnis zur Niederlassung. Für die Praxis suchte ich mir ein Dorf, landschaftlich bezaubernd gelegen, im Siegerland. Nach Ansicht meiner Angehörigen war es in der kultu­rellen Entwicklung um etwa 50 Jahre zurückgeblieben. Mir war das gleichgültig. Ich hatte eine Hirschbrunft bei Vollmond und Bodennebel erlebt, und so wußte ich, daß ich neben der Praxis wieder meinem Hobby, der Jagd, nachgehen konnte.

Mit der Praxiseröffnung begann der Abschnitt meines Lebens, der von Kämpfen und Ereignissen komischer, ernster und härtester Art erfüllt war. Es begann eine Zeit, die mich lehrte, wie man im Lauf von Jahren mit Menschen dieses Landes und mit der Natur verbunden wird.

Die männlichen Dorfbewohner fragten sich: „Was will das kleine Mädchen hier? Sollen wir zu der hingehen?“ Das war glatte Meuterei! Da sprangen aber die Frauen in die Bresche: „Wenn wir mit unseren Unterleibern alle Jahre zu einem Arzt gehen mußten, könnt ihr mit eurem Rheuma ruhig mal zu einem Mädchen gehen!“

Nachbarkollegen — Herren, die meine Großväter sein konnten — be­fragten hinter meinem Rücken die Hebammen: „Will das Kind etwa Geburtshilfe machen?“ Mit den Hebammen hatte ich schon einige Male zu tun. Sie gaben eine passende Antwort: „Natürlich, sie macht nämlich auch mal Narkose bei einer Ausschabung oder bei einer Zange!“ Bisher war die Entbindung die beste, bei der die Wöchnerin am lautesten schrie und mindestens 10 Frauen zum Bändigen der Ge­bärenden notwendig waren.

Langsam gewöhnten sich auch die Männer an mein „Dasein“, wohl auch schon deshalb, weil ich sie sonntagnachts nach den üblichen Bier­schlachten zusammenflicken mußte. Nachdem ich auch noch einige Leute mit sonderbarem Ansinnen raus geschmissen und man bemerkt hatte, daß man mich nicht auf den Arm nehmen konnte, spielte sich das Ganze recht gut ein.

Kriegsauswirkungen

Ich glaubte, mit dem bisher Erreichten zufrieden sein zu können. Neben der Praxis wollte ich nun Fische fangen, jagen und mir ein

Reitpferd zulegen. Doch da kam der Krieg und damit das Ende meiner Träume. Nun begann eine Zeit unvorstellbarer Anforderungen, so­wohl geistiger als auch körperlicher Art, und eine Zeit der Improvi­sationen. Zunächst waren die Verhältnisse bis auf den eingeschränk­ten Autobetrieb einigermaßen erträglich. Dann gab es nacheinander alles weniger: Verbandzeug, notwendige Medikamente, Betäubungs­mittel, Wehenmittel. Ununterbrochene Fliegerangriffe begannen auf die benachbarte Kreisstadt; große Gefangenenlager wurden für Fremd­arbeiter eingerichtet.

Damals fuhr ich einen großen BMW, ein schönes Auto, wenn man genug Benzin hatte. Mit 20 bis 30 Litern Benzin (Zuteilung pro Monat) konnte ich allerdings nicht viel anfangen. Ich mußte mich darauf besinnen, daß ich zwei Beine hatte. Pausenlos war ich von nun an zu Fuß oder auf Skiern Tag und Nacht unterwegs. Ein Nachbar­kollege nach dem anderen wurde eingezogen, so daß ich schließlich in einem Umkreis von 30 Kilometern die einzige Ärztin war. Was tun? In jedem Dorf suchte ich mir ein gescheites junges Mädchen oder ging zur Hebamme und machte ihnen klar, was sie zunächst bei einem Kranken zu tun hätten: ihn anzusehen, richtig in den Hals zu schauen, Fieber zu messen. Dann erst sollten sie mich anrufen, sofern das Telefon noch ging. Das klappte ausgezeichnet, auch dann, als schwere Diphtherieepidemien auftraten. Den Hebammen, die unselbständig geworden waren, sagte ich, daß sie einmal wieder lernen müßten, eine sichere rektale Diagnose zu stellen, und daß sie auch imstande sein müßten, vor einer Geburt den Eröffnungstermin ohne meine Gegen­wart zu bestimmen. Auch das funktionierte, zur Freude der Heb­ammen.

War meine Anwesenheit notwendig, um einen Eingriff geburtshilf­licher Art vorzunehmen, so wurde er — bedingt durch die Kriegszeit — zu einer Qual für alle Beteiligten. Brauchbare Wehenmittel waren nicht vorhanden. Es gab kaum noch Gynergen®, Betäubungsmittel, Blutersatzflüssigkeiten, Desinfektionsmittel. Hatte ich die zugeteilten 20 Liter Benzin für meinen Wagen verbraucht, so mußte ich mich zu solchen „Operationen“ zu Fuß oder auf einem Motorrad auf den Weg machen. Ich fand dann eine völlig erschöpfte Frau, die zu keinen Wehen mehr fähig war, sah verzweifelte Angehörige und eine mutlose Heb­amme. Zunächst injizierte ich (vielleicht schon die letzte Ampulle) Morphium, um der Frau etwas Mut zu verschaffen. War der Kopf des Kindes eben greifbar, legte ich ebenfalls ohne Narkose die Zange an, und mit Hilfe der Hebamme, welche die Wehen unterstützte, zog ich bei jeder Wehe die Zange vorsichtig weiter. Geschafft wurde es immer. Aus diesen Situationen heraus entstand eine große Dankbar­keit und tiefe Verbundenheit zwischen den Patienten und mir. Das Gefühl der Freude und Befriedigung überwog am Schluß alle Schreck­nisse.

Einige Situationen sind mir im Gedächtnis geblieben, bei deren Er­innerung mir heute noch ein Schauder über den Rücken läuft: einige schwere atonische Nachblutungen, festsitzende Nachgeburten und eine Blasenmole, die sich bis in den vierten Monat hineingemogelt hatte. Diese auszuräumen, ohne Narkosemittel, ohne Transportmittel in die Klinik und ohne auch nur die Möglichkeit zu haben, hinterher helfen zu können, war grauenvoll. Plasmaexpander hatte ich nicht, aber ich er­innerte mich an physiologische Kochsalzlösung. Schon damals hatte ich die Vorstellung, daß man zunächst den Kreislauf wieder auffüllen müßte. Also nahm ich einen Kochtopf, ein Litermaß mit Wasser, einen Eßlöffel voll Salz und kochte eine physiologische Kochsalzlösung, kühlte diese im Schnee ab und machte damit munter subkutane In­fusionen. Eis auf dem Bauch und Uterusmassage taten das übrige. Keine dieser Frauen ist gestorben. Nie ist auch nur eine Infektion auf­getreten, wahrscheinlich aus dem Grund, weil der Dreck auf dem Lande „steril“ ist. Wenn auch nur begrenzt Desinfektionsmittel zur Verfügung standen, so wurden doch entscheidende Stellen sauber gehalten.

Zwei Krankheiten gab es in diesen turbulenten Zeiten nicht: Herz­infarkt und Diabetes. In meiner umfangreichen Praxis starben zwei alte Männer an einem Infarkt; Diabetes hatten zwei weitere Patienten (jetzt behandele ich 60 Diabetiker; mein jüngster Infarktpatient war 28 Jahre alt). Der Gesundheitszustand der Bevölkerung in den letzten Kriegsjahren war ausgezeichnet. Als einziges, stets vorhandenes Vit­aminmittel benutzte ich Wiesenkraut und Kartoffelpreßsaft, vor allem in den Gefangenenlagern. Kein kriegsgefangenes Kind hatte ernst­hafte Gesundheitsstörungen.

Letzte Kriegsjahre

Der Tagesablauf meiner Praxis spielte sich in den letzten Kriegsjahren so ab: Sprechstunde fiel aus, da auf Grund der Kriegsverhältnisse kein Patient kommen konnte. Deshalb fing ich schon morgens an, rundum auf allen Dörfern — so weit ich im Lauf des Tages kam — Besuche zu machen. Ich zog einen Skianzug und meine letzten „wasserdurchläs­sigen“ Bergstiefel an, packte den Rucksack mit notwendigen Uten­silien, legte noch eine Milchflasche (zum Hamstern) hinein, Schloß eine Art Koppel um den Bauch, befestigte dort mit einer Leine meinen ständigen Begleiter, einen abgemagerten Schäferhund, und hängte hinten eine Pistole ungarischer Herkunft an. Der Schäferhund zog mich, mit der Pistole wollte ich mich verteidigen. Für dieses Modell hatte ich noch zwei Patronen zu neun Millimeter. Da der Abzugbügel zerbrochen war, steckte ich eine Patrone in den Lauf, hielt davor eine Ampullensäge und ließ den Schlagbolzen vorsichtig auf die Ampullen­säge gleiten. Im Notfall mußte ich also zunächst die Ampullensäge entfernen. Das konnte nur geschehen, in dem ich zuerst den Abzug zurückziehen, die Säge entfernen und danach den Schlagbolzen wie­der loslassen mußte, um einen Schuß abgeben zu können. Die Pistole war also keine Waffe, sondern eine Verzierung.

So ausgerüstet, wanderte ich tagelang von Dorf zu Dorf, bis wieder einmal alle Patienten besucht waren. In dieser Zeit habe ich oft an Großvater denken müssen, der mir sagte: „Kind, das hältst du nicht aus!“ In diesen Zeiten dankte ich ihm, daß er uns früher jeden Tag zum Sport anhielt und selbst im Winter abends noch in den Garten jagte, wenn wir unsere Turnübungen vergessen hatten. Auch wäh­rend des Studiums mußten wir als Studenten jede Art von Sport be­treiben. Das machte sich jetzt bezahlt. Einmal machte ich aber doch schlapp nach den vielen Strapazen. Ich erinnere mich noch an die Kriegsentbindung einer Elftgebärenden, die einen 9- bis lOpfündigen Jungen, allerdings mit Zangenhilfe, gebar. Vor ihrem Bett bin ich aus Erschöpfung zu Boden gegangen. Der Kindesvater suchte im ganzen Dorf die letzten Kaffeebohnen zusammen, um mich mit Hilfe eines Kaffees wieder einsatzfähig zu machen.

Das Auto besaß ich noch; langsam fiel es jedoch auseinander. Einen Vorzug hatte der BMW: Er besaß den guten alten Solexvergaser, der mit einigen Schrauben leicht zu lösen war. Ich fuhr nämlich nicht nur mit Benzin, sondern auch mit Lackverdünnungen, die von Zeit zu Zeit einen schlammartigen Rückstand im Vergaser hinterließen. Um ihn zu lösen und den Wagen startfertig zu machen, benutzte ich Äther, das ich in einer kleinen Flasche mit einem Teelöffel bei mir führte. Auch im Dunkeln konnte ich den Vergaser abschrauben, mit dem Teelöffel reinigen, die Düsen durchblasen und Brennstoff einfüllen. Der Motor sprang meist wieder an.

Eines Nachts, bei strömendem Regen und Schlamm, hatte ich zwar Teelöffel und Schraubenschlüssel, jedoch keinen Brennstoff mehr. Also suchte ich eine Frau mit einer Kerze und einer Kaffeetasse, legte mich in den Straßenschlamm unter den Tank, öffnete ihn und fing den heruntertropfenden Brennstoff mit der Kaffeetasse auf — und das bei brennender Kerze.

Reifen und Decken gab es auch nicht mehr. So kaufte ich mir auf dem schwarzen Markt für teures Geld Montierhebel und etwas Gummilösung; ich flickte und montierte meine Reifen selbst. Bei Be­tätigung der Handpumpe mußte ich ungefähr 250- bis 300mal in die Knie gehen, um den Reifen aufzupumpen. Nach einer Weiterfahrt von 6 Kilometern mußte ich Reparatur und Pumpen wiederholen, da Flicken und Manschette wieder abgerutscht waren.

Ich betrachte es als ein Geschenk der Natur und Erziehung, daß ich diese Jahre nicht nur körperlich, sondern auch geistig ausgehalten habe. Durch Natur und Erziehung habe ich so viel Schönes erfahren und mit Bewußtsein genießen können, daß ich diese Stress-Situationen leichter überstehen konnte. Ich verstand erst jetzt das Wunder der immer wieder sich erneuernden Natur und der geistigen Dinge. Zu Anfang des Krieges hatte ich das Glück, eine vollständige Cotta-Goethe-Ausgabe aus dem Jahr 1848 zu erwerben. Diesen Goethe habe ich gelesen. Erholsam war es nach einem Wehrmachtsbericht im Radio, Goethe als Kriegsberichter in der „Campagne in Frankreich“ zu lesen. Ich glaube, daß uns eine derartige Lektüre und gute Musik über die Jahre der Vereinsamung retteten.

Kriegsende – Nachkriegsjahre

Die Amerikaner halfen mir nach ihrem Einzug in großzügiger Weise mit Medikamenten. Ihre Ärzte berieten mich sogar in speziellen Fäl­len. In dieser Zeit häuften sich die Infektionskrankheiten, besonders die Diphtherie. Serum war nicht vorhanden. Die Diphtherie nahm bei körperlich erschöpften Menschen erschreckende Formen an: Beläge von den Zähnen bis hinunter in den Schlund, so weit man sehen konnte. Für die jungen Mediziner der Amerikaner waren diese Fälle besonders interessant. Sie hatten ein solches Ausmaß der Erkrankung in Amerika bisher noch nicht zu sehen bekommen.

Nach Kriegsende und Zusammenbruch nahm ich die Söhne meiner Freunde in mein Haus auf. Sie waren entweder schwer verwundet oder seelisch am Ende ihrer Kräfte. Im Krieg hatten sie das Not­abitur erhalten; nun sollten sie das Vollabitur nachmachen. Jetzt ge­rieten sie in einen Schulbetrieb, der ihnen nach den Kriegserlebnissen wirklichkeitsfremd geworden war. Nur schwer waren sie zu bewe­gen, auf der Schulbank zu bleiben. Mathematik und Physik leuchteten ihnen ein; Deutsch wurde jedoch zu einer Katastrophe. „Faust“, „Wallenstein“ und andere Literatur lehnten sie ab, als sie Aufsätze darüber schreiben sollten. Da überredete ich sie zu einem Geschäft: Abends wiederholte ich den „Faust“, und am folgenden Tag über­setzte ich ihn den jungen Leuten in „Landserjargon“. Das wurde akzeptiert. Auch schrieb ich die Gliederungen ihrer Aufsätze. Dafür hatte ich aber feste Taxen: Eine kurze Disposition entsprach einer Schachtel Streichhölzer, eine längere Disposition guten Nährmitteln. Einem Schwerverwundeten brachte ich abends die ganze Schulweisheit bei, welche die übrigen im Unterricht der Schule gehört hatten. Das war alles strapaziös, jedoch amüsant und abwechslungsreich. Dabei lernte ich selbst sehr viel, besonders von den Physikstudenten, die erwarteten, daß ich als Medizinerin über diese Dinge Bescheid wußte.

Fortbildung

Die Zeiten festigten sich. Mehr Benzin wurde zugeteilt, und ich suchte mir für meinen Wagen auf dem Schrottplatz einen neuen Zylinder­kopf, um den Motor in Ordnung zu bringen. Mit Lebensmittelkarten gut versorgt, wollte ich eine kleine Fortbildungsreise antreten. Ich hatte nämlich festgestellt, daß mein medizinisches Wissen viele Lük-ken auf wies. An Fortbildung in irgendeiner Art, an Zeitschriften usw. war während des Krieges nicht zu denken. Ich hatte aber das Bedürf­nis, etwas Neues zu hören.

Nachdem ich eine Vertretung gefunden hatte, beschloß ich zwei bis drei Wochen lang in Göttingen eine persönliche Fortbildung zu ma­chen. Beziehungen zur Universität hatte ich durch einen Studenten und dessen Schwager, der heute ein berühmter Mann ist, damals aber noch Assistent war. Beide sorgten für ein wohlassortiertes Fortbil­dungsprogramm. Zunächst ging ich in die Ambulanz der Orthopädi­schen Klinik, um ein wenig mehr von der Wirbelsäule zu lernen, be­suchte dann alle erreichbaren medizinischen Hauptvorlesungen, nahm an den Sitzungen der Medizinischen Gesellschaft teil und hörte schließlich noch Rechtsphilosophie bei Nikolai Hartmann. Für mich war das ein Genuß; es waren langentbehrte und nun doppelt genos­sene Erkenntnisse. Schon im Studium ist es für mich und meine Kom­militonen selbstverständlich gewesen, nicht nur Medizin zu hören, sondern auch Vorlesungen über Jura, Physik, Literatur — soweit dies zeitlich möglich war — zu besuchen. Während unserer Ausbildung wurde kein Studium generale gefordert. Wir wollten uns allgemein bilden; das war eben selbstverständlich.

Diese privaten Fortbildungskurse in Göttingen habe ich zwei- oder dreimal durchgeführt. Bei der ersten Reise nahm ich übrigens einen am Tag zuvor von mir geschossenen Rehbock mit. Seine Keulen wur­den später in der Gemeinschaftsküche der Chirurgischen Klinik von staunenden, bewundernden Assistenten und ihren Frauen andachts­voll verspeist.

Nach Kriegsende begann für mich nach und nach wieder ein „geregel­tes grünes Leben“, das ein Ausgleich für die harten Anforderungen des Berufs war. Die Jagd ist immer mein Hobby gewesen; die Macht des ererbten grünen Blutes ließ sich nicht unterdrücken. Hierüber würde ich gern mehr erzählen, doch wäre dieser Bericht eher für eine Jagdzeitung geeignet.

Wandel der Krankheitsbilder

Mit Beginn des Wirtschaftswunders wandelte sich das Krankheitsbild der Patienten. Zuerst erschienen zahlreiche Kranke mit Fußbeschwer-10 den. In kürzester Zeit hatten sie sich einige Pfunde an Gewicht zu­gelegt und rutschten nun mit ihren Füßen auseinander. Dann stieg der Bedarf an Leibbinden, da der „Speckbauch“ Beschwerden machte. Da­mit traten auch Rückenschmerzen, Hohlkreuzbeschwerden und zuneh­mend arthrotische Leiden auf. Es kamen Patienten mit schweren Stoff­wechselstörungen, angefangen vom Diabetes bis zur Gicht. Gefäß­leiden und neurotische Störungen stellten sich selbst schon bei jüng­sten Menschen ein. Alle diese Krankheiten waren uns trotz der Stress-Situationen in den Kriegs- und Nachkriegs jahren nicht bekannt.

Ein erschütterndes Bild bot sich mir erst in den letzten Monaten. Für den schweren Dienst in der Feuerwehr mußte ich Männer ab 20 Jahre gründlich untersuchen. Der Befund entsetzte mich: Übergewicht, un­trainierter Kreislauf, die Unfähigkeit, 30mal die Knie zu beugen, da sie überhaupt nicht wußten, was eine Kniebeuge war. Sport: nicht gefragt, nur Autofahren! Das Ergebnis war derart schlecht, daß ich den Kreisarzt anrief, um zu fragen, ob ich etwa 75 °/o schon allein wegen mangelnder Kreislaufverhältnisse zurückstellen sollte. „Nein“, war die Antwort, „sonst haben wir keinen Nachwuchs mehr; solange das Belastungs-Ekg normal ist, soll man sie einstellen!“

Rück- und Ausblick

Wenn ich über mein Leben, das ich nun mehr als 30 Jahre lang auf dem Land verbringe, nachdenke, so muß ich immer wieder sagen, daß mir die Jahre, in denen das Härteste von mir verlangt wurde, am Ende „größte Freude und tiefste Befriedigung“ brachten, daß sich die Dankbarkeit und Anhänglichkeit der Patienten aus diesen Jahren bis heute gehalten hat, und daß ich auf dieser Basis auch heute — selbst für die junge Generation — der Hausarzt sein kann, der auch jungen Menschen mit echt deutschen Worten die Meinung sagen darf. Sie nehmen diese Worte nicht übel, sie beherzigen sie. Man muß aber auch bereit sein, an ihren Interessen und ländlichen Belangen Anteil zu nehmen. So wurde ich zweimal Schützenkönigin unseres Dorfes; ich spiele auch mit ihnen Skat, wenn ich dem werdenden Vater damit die „Wehen“ erleichtern kann.

Indessen haben sich die Zeiten gewandelt. Kinder, die in ihrem Säug­lingsalter bei Ernährungsstörungen als verhext galten und zu einem Exorzitienmeister gebracht wurden, fahren heute im eigenen Wagen an meiner Praxis vor. Keiner von ihnen glaubt noch daran, daß der Böse leibhaftig umhergeht. Wenn ich diesen jungen Menschen er­zähle, unter welchen Absonderlichkeiten sie groß geworden sind, so schütteln sie nur den Kopf. Eines aber erwarten die heutigen Patien­ten wie schon ihre Eltern: Der Landarzt soll für sie stets zu erreichen sein, gleichgültig, ob es sich dabei um einen Wochen-, Sonn- oder Feiertag handelt.

Wenn sich ein Arzt entschließt, aufs Land zu gehen, so ist das sein freier und eigener Wille. Er muß sich jedoch darüber im klaren sein, auf Genüsse, wie sie die Stadt bietet, verzichten zu müssen. Dafür hat er Erlebnisse, die diesen Verzicht wettmachen. Ein Landarzt bringt keine Opfer; mit Empörung erfahre ich von Life-Sendungen, in denen sich ein „so bedauernswerter Landarzt als Märtyrer“ hinstellen läßt. Solche Leute gehören nicht aufs Land! Sie eignen sich nicht dazu, dem medi­zinischen Nachwuchs das Landleben schmackhaft zu machen. Der Landarzt muß über sein Leben „4 große H“ stellen können: Herz und Härte, Hobby und Humor! Wer dazu nicht imstande ist, der lasse es bleiben; wer das zu beherzigen weiß, der lebt auch heute noch wie ein kleiner König!

Verfasserin: Dr. Tony Riecke-Menne, 5901 Deuz, Krs. Siegen.